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50 Jahre Großgemeinde

Festrede 50 Jahre Großgemeinde

Dr. Volkmar Stein © Monika Eichenauer
Dr. Volkmar Stein © Monika Eichenauer
Geehrte Festgäste,

liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger,

vor beinah 51 Jahren, am 26. November 1971, versammelte sich im Bürgerhaus eine noch stattlichere Menge als die gegenwärtige, um der Unterzeichnung der Grenzänderungsverträge zuzusehen und ein Fest zu feiern. Das waren die Verträge zwischen der Stadt Büdingen und 15 Kommunen, die sich mit Büdingen vereinen wollten - ungefähr denselben, die heute die Großgemeinde bilden. Nicht dabei waren Mittelgründau, das ein paar Wochen länger brauchte, und Düdelsheim, das überhaupt nicht wollte. Das Land Hessen in seiner überlegenen Weisheit behielt sich das letzte Wort in Gesetzesform vor. Am 1. Juli 1972 entschied es, dass Altwiedermus und Mittelgründau, die wollten, nicht durften, und Düdelsheim, das nicht wollte, musste.

Den musikalischen Rahmen des offiziellen Teils der Feier im Bürgerhaus gestalteten das Orchester der Wolfgang-Ernst-Schule unter Leitung von Reinhold Ploch, der Frauenchor, die beiden Büdinger Männerchöre und der Männergesangverein Wolferborn. „Gott ist meine Zuversicht“, sang der Frauenchor.

Danach spielte die Feuerwehr-Kapelle auf, und es gab Freibier. In einer Karnevalsrede nannte der Bürgermeister die konsumierte Biermenge. Dieses wichtige Datum, das ich Ihnen gern mitgeteilt hätte, habe ich leider vergessen. Als Orientierungsgröße für Ihre heutigen Aktivitäten würde es ohnehin nicht taugen, denn heute ist das Bier nicht frei, und vielleicht wollen die Gedanken an Heizöl, Gas und Strom nicht ganz aus Ihrem Kopf.

Auch damals, im November 1971, waren mindestens zwei Herren, die auf dem Podium saßen, nicht in Volksfeststimmung: Bürgermeister Zinnkann und Landrat Moosdorf. Beide wollten den Landkreis Büdingen erhalten. Moosdorf hatte das Landratsamt seit 1946 in eisenbeschlagenen Schuhen und mit fester Hand geleitet, über 103 Bürgermeister geherrscht und den Kreis geprägt. Zinnkann war bis 1970 Landtagsabgeordneter, zeitweise Fraktionsvorsitzender gewesen. Sie hatten ihre Stimme erhoben und Gründe genannt, aber ihre Wiesbadener Genossen hörten nicht auf sie. Das war bitter, und sie sagten es auch.

Nichts weiter dazu, und gar nichts zu unserm Versuch, wenn der Kreis Büdingen nicht zu erhalten wäre, lieber mit dem Kreis Hanau zu fusionieren! Heute geht es um die Großgemeinde Büdingen. Das Thema „Gebietsreform“ war nach 1969 bundesweit ein meteorologisches Detail der Großwetterlage „innere Reformen“. Dass die bisherigen Strukturen - kleine Gemeinden mit ehrenamtlichen Bürgermeistern - den größeren Ansprüchen der Bürger und der ständig wachsenden Menge gesetzlicher Ge- und Verbote, gesetzlicher Fördermöglichkeiten nicht mehr gewachsen war, ließ sich einsehen.  Dass weiträumigere und professionellere Strukturen ihre Nachteile haben, kühler sein können, ebenfalls. Vor der Zusammenlegung bisher selbständiger Gemeinden wäre aber zu klären, zu entscheiden gewesen, wozu die „neue“ Gemeinde fähig und befugt sollte - also eine Funktionalreform. Die blieb in Hessen aus, und daraus entstanden Irrationalitäten, Widersprüche.

Büdingen war langsam. Es war nicht Trägheit, die Bürgermeister Zinnkann zögern ließ. Er habe Hochachtung vor der Haltung der Bürger in den Nachbargemeinden, die nicht ohne weiteres den „Sprung ins Wasser“ wagen wollten, sagte er. Büdingen seinerseits könne auch ohne die umliegenden Gemeinden existieren. Die Stadt habe von einer Gebietserweiterung nichts Positives zu erwarten. 1969 hätten die Büdinger Steuereinnahmen 1,9 Millionen DM betragen, die der umliegenden Gemeinden aber nur 400 000 DM - und dies bei einer Einwohnerzahl, die doppelt so groß wie die Büdingens sei. Büdingen werde also eine Erweiterung teuer zu stehen kommen. Wir - damit meine ich jetzt die Büdinger CDU, deren Mitglied ich war und bin - drängten darauf, dennoch die „vornehme Zurückhaltung“ aufzugeben. Wir hatten Grund zu der Furcht, Büdingen könne in seiner Region sozusagen geopolitisch ins Hintertreffen geraten. Denn die Großgemeinden Nidda und Schotten, 14 000 bzw. 10 000 Seelen, waren schon am 10. November 1970 mit Brief und Siegel der Landesregierung versehen worden. Wir - wiederum die CDU - versuchten auch, die Dinge selbst voranzutreiben. Unter dem Motto „Schluckt uns Büdingen?“ traten wir zwischen April und Juni 1971 unter der Gesamtregie von Jules August Schröder in den Gastwirtschaften der 15 Nachbargemeinden mit einem Rednerteam aus den eigenen Reihen auf und warben für einen Anschluss an Büdingen. Tatsächlich verhandelte bald danach eine Kommission der Stadt mit dem Bürgermeister an der Spitze mit den Nachbargemeinden, die dazu bereit waren. Ihre Wünsche und Forderungen gingen in die Verträge ein. Dass sie nur im Rahmen der verfügbaren finanziellen Mittel verwirklicht werden konnten, war den Beteiligten klar. Die Gemeinden wünschten den Erhalt bestehender Gemeindeeinrichtungen wie Sportplatz, Friedhof, Feuerwehr, Jagdbezirke, Vatertierhaltung und eine Verbesserung der gesamten Infrastruktur, der Verkehrsverbindungen, der Wasserversorgung und Entwässerung, in wenigen Fällen eine Übernahme des (ehrenamtlichen) Bürgermeisters und der Kassenverwalterin in den Dienst der Stadt. Wenn ich heute auf diese Verträge schaue, fällt mir auf, dass ein Dorfgemeinschaftshaus nur von Michelau, ein Kindergarten nur von Büches gewünscht wurde.

Am 1. Juli war die Großgemeinde Büdingen in der bis heute gültigen Gestalt ­ - ohne Altwiedermus und Mittelgründau, mit Düdelsheim - geschaffen.­ In meinem Rückblick auf das erste halbe Jahrhundert ihrer Existenz und in dem hier und heute gegebenen Rahmen nenne ich wenige Zahlen und Fakten und beschränke mich in der Hauptsache auf Betrachtungen und Überlegungen, die ganz und gar auf meine Kappe gehen. Das war zunächst die Kappe eines kleinen Akteurs, dann die eines Beobachters auf der Galerie, der zugleich Chronist und Historiker ist. Meinen Blick werfe ich zuerst auf die Handelnden, dann auf das Geschehen.

Ich übersehe nicht, aber blende doch weitgehend aus, dass die Kommunalpolitiker - Bürgermeister, Stadträte, Stadtverordnete, Ortsbeiratsmitglieder - auf der kommunalen Bühne nie allein nach eigenem Wunsch, eigener Überzeugung handeln; Bundes- und Landesrecht und andere Fakten geben ihnen vieles vor.

Wenn wir die Büdinger Bürgermeister seit 1972 auf unserm geistigen Laufsteg passieren lassen, könnten wir meinen, in sehr ruhigen Zeiten zu leben. Willi Zinnkann blieb bis zum Ende der Periode, für die er gewählt war, im Amt und schied, erst sechzigjährig, aus. Den Grund dafür habe ich schon angedeutet. Kesser und provozierender sagte er selbst es in seiner Abschiedsrede. Da verglich er, der belesenste Büdinger Bürgermeister, sich mit dem Kater Hiddigeigei aus dem „Trompeter von Säckingen“, der vom Turm auf das Treiben des Pygmäenvolkes herabschaut. Er zitierte das ganze Gedicht mit den Schlussversen

Im Bewußtsein seines Wertes

Sitzt der Kater auf dem Dach.

Zwischen ihm und Benjamin Harris, der erst kürzlich im Büdinger Rathaus angekommen ist, amtierten dort nicht mehr als vier Personen männlichen Geschlechts, zwei davon lang und zwei kurz, wenn man sechs Jahre eine kurze Zeit nennen darf. Zwei gehörten der CDU, je einer der SPD und der FWG an - ihre Namen kennen Sie alle.

Wenn man aber auf die Stadtverordnetenversammlung schaut, ergibt sich ein anderes Bild, schon in bezug auf die Zahl der Fraktionen. 1972 waren es drei (SPD, CDU, FWG), 1989 kamen die Grünen hinzu, 2006 die NPD, 2011 Pro Vernunft und eine eigene Liste der FDP, 2021 die AfD. Nach einer Zellteilung der Grünen werden auf der Homepage der Stadt heute 8 „Fraktionen“ genannt. Die Großgemeinde begann mit einer absoluten Mehrheit der SPD, der bisher keine weitere folgte. Sie wurde abgelöst von einer Periode mehr oder weniger enger Zusammenarbeit der CDU mit der FWG; vor der ersten Wiederwahl von Bürgermeister Bauner, noch durch das Parlament, trafen die beiden eine Verabredung, die mehr als 70 Punkte umfasste. 1989, als für die Grünen 3 Stadtverordnete mit Blumentöpfen ins Parlament einrückten, ging die SPD mit ihnen eine schriftlich fixierte Koalition ein, die erste rot-grüne Koalition auf Gemeindeebene im Wetteraukreis. Sie verfügte über genau 19 von 37 Stimmen. 1993 konnte die (nicht vertraglich fixierte) Zusammenarbeit von CDU und FWG/FDP wieder aufgenommen werden. 1997 hätte es für rot/grün gereicht, 2001 für CDU plus FWG/FDP, die Zusammenarbeit wurde aber beide Male nicht fixiert. 2001 legten alle vier Fraktionen für die Wahl der ehrenamtlichen Stadträte eine gemeinsame Liste vor - wenn ich recht sehe, einmalig. Zu festen Verbindungen kam es auch nach den folgenden Kommunalwahlen nicht mehr; die zwischen CDU und FWG wäre dreimal möglich gewesen, schied aber nun aus, weil die FWG seit 2004 Bürgermeisterfraktion war und Erich Spamer sich von der CDU getrennt hatte. Nach der Wahl von 2021 legten FWG, SPD, FDP und Pro Vernunft eine gemeinsame Liste für den Magistrat vor; das Abstimmungsverhalten dieser Gruppe ist aber seitdem nicht einheitlich. Mit andern Worten: Mehrheiten mussten etwa seit 1997 von Fall zu Fall, durch persönlichen Einsatz der führenden Parlamentarier und in Kompromissen gebildet werden. Ich finde, das ist in einem Staat, dessen Mitglieder sich in ihren Interessen, ihren Lebensstilen, ihren Überzeugungen, ihrem Glauben so stark unterscheiden wie in dem unsrigen, gar nicht übel. Sehr feinsinnige Menschen missbilligen solche Vorgänge und bezeichnen sie als Kuhhandel. Noch weniger behagt ihnen allerdings, was dem Abschluss eines Kompromisses meist vorausgeht: Debatten, in denen es in Büdingen öfter rumpelte - die Lautstärke hing vom Temperament der Wortführer der Fraktionen und vor allem des Bürgermeisters ab.

Was ist nun aber in dem vergangenen halben Jahrhundert in der Großgemeinde geschehen? Meine chronikalischen Notizen füllen mehrere hundert Seiten, hier muss ich mich auf ein paar Linien und wenige Beispiele beschränken.

Nach dem Zusammenschluss von 16 bisher selbständigen Kommunen war ein einheitliches Ortsrecht zu schaffen - einheitliche Satzungen, gleiche Gebühren und Beiträge. Das betraf zum Beispiel die Geschäftsordnungen von Magistrat und Stadtverordnetenversammlung, die Wasserversorgung und die Kanalisation, die Abfallwirtschaft, das Friedhofswesen. Dazu waren intensive Beratungen in der Verwaltung, im Magistrat, in der Stadtverordnetenversammlung und ihren Ausschüssen zu führen. Die Stadt - nicht nur um drei Silben einzusparen, verwende ich jetzt diesen Begriff - hatte für jedes Jahr einen Haushaltsplan zu beschließen und die gesetzlichen Vorschriften des Bundes und des Landes Hessen zu erfüllen.

Aber es galt natürlich nicht bloß, gesetzestreu zu verwalten. Vieles musste gestaltet, neu geschaffen oder umgebaut werden. Vieles ist geschehen - in einem rechtlichen und finanziellen Rahmen, der immer enger wurde. Planen und bauen also!

Viel war noch für elementare Infrastruktur zu tun. Sogar für die Wasserversorgung. In mehreren Stadtteilen wurden Hochbehälter errichtet, im Krebsbachtal eine „Wassergewinnungsanlage“.  Neuere Kläranlagen entsorgten entsprechend der Geographie jeweils mehrere Stadtteile. Die Abfallentsorgung ging an den Kreis über, mehrere Fraktionen wurden gebildet, Flaschen müssen gebracht werden.

Die Gestalt der Büdinger Altstadt wurde durch das Städtebauförderungsgesetz saniert und renoviert; wer Fotografien aus der Zeit um 1900 sieht, kann überzeugt sein, dass die Altstadt nie so schön war wie heute. Ein neues Programm „Stadtumbau in Hessen“, das auf demographische und wirtschaftliche Strukturveränderungen reagieren soll, fällt zur Zeit vor allem durch den Abriss einer Häuserzeile zwischen Bahnhof und Düdelsheimer Straße auf. In vier Stadtteilen (Eckartshausen und Vonhausen, Michelau und Wolferborn) begann die Dorferneuerung mit kleineren, aber sinnvollen Maßnahmen, ebenfalls durch das Land gefördert.

Der zunehmende Verkehr, der bewegte wie der ruhende, verursacht Probleme, die bisher immer nur kleinteilig gelöst wurden. Größere Lösungen wurden verworfen, 1977 der Vorschlag des Büros Kommunale Planung, 1998 das SPD-Konzept eines Stadtrings mit zweispuriger Einbahnstraße. Dem ruhenden Verkehr bot eine Hanauer Gesellschaft ein großes Haus, aber zunächst jedenfalls fuhr keiner rein. Der Altstadtparkplatz dagegen, auf den wir zwanzig Jahre warteten, ist gut angenommen.

Obwohl in den Grenzänderungsverträgen kaum notiert, stellten sich die Kindergärten und Dorfgemeinschaftshäuser als wichtiger Teil der Infrastruktur heraus. Ich sage „Kindergärten“, weil das neue amtliche Wort dafür und vor allem seine Abkürzung mir nicht über die Lippen gehen wollen. Die Kindergärten wurden durch zunehmende Berufstätigkeit der Mütter nötiger, als vor allem sprachliche Bildungseinrichtungen wichtiger und verschwanden durch staatliche Verpflichtungen aus dem Feld der freiwilligen Aufgaben. Die Dorfgemeinschaftshäuser ermöglichen in manchen Orten wie Michelau dörfliche Kommunikation und die Arbeit vieler Gremien und Vereine. Die Stadt hat in beiden Bereichen viel investiert.

Für Ortsansässige und Zuziehende wurde neues Bauland erschlossen, wurden Straßen und Wege gebaut - also Fläche versiegelt, unter immer kritischeren Blicken nicht nur des Regierungspräsidenten, sondern auch vieler am Umweltschutz orientierter Menschen.

Für die wirtschaftliche Existenz Büdingens hat der Tourismus durchaus und seit langem Bedeutung, aber in einem sehr bescheidenen Rahmen, der kaum gesprengt und nur leicht ausgedehnt werden kann. Nicht wenige Besucher schätzen die Schönheit, den historischen Rang des alten Stadtkerns, lassen sich aber eher zu einem Tagesausflug als zu einem längeren Aufenthalt anregen. Die Übernachtungsmöglichkeiten sind übrigens begrenzt: das Hotel „Stadt Büdingen“, kürzlich das Haus „Sonnenberg“ fielen weg, das Altstadthotel wurde nicht gebaut. So versuchten die städtischen Gremien, Industrie und Gewerbe, vor allem produzierendes Gewerbe anzusiedeln. Wichtiges ging verloren oder wurde reduziert: Okal produziert nicht mehr, Sonnenschein wurde zweimal verkauft und vom jetzigen amerikanischen Eigentümer beschnitten. Mehrere kleinere Fabriken mussten schleßen. Aber es kam auch etwas hinzu. Von den beiden Düdelsheimer Gewerbegebieten ging das erste vor allem auf den Wunsch ortsansässiger Betriebe nach Erweiterung zurück, von den drei Büdingern (Thiergarten-Süd, Reichartsweide und Lipperts) sind die späteren in erster Linie dazu gedacht, neue Betriebe in die Stadt zu holen. Büdingen hat auch an dem interkommunalen Gewerbegebiet „Limes“ Anteil. Nicht alles ging schnell genug und nach Wunsch. Die Hessische Landgesellschaft, beauftragt mit der Vermarktung der „Reichartsweide“, hatte in den Augen des Bürgermeisters ein zu geringes Arbeitstempo. Der letzte Verkauf, wieder in eigener Regie, löste nicht ungeteilte Freude aus; man fürchtet, dass der von Lieblos her Anreisende demnächst Büdingen für einen Autofriedhof halten könnte.

Büdingen hat sich als eine weltoffene Stadt gezeigt. Zu allererst gegenüber den amerikanischen Soldaten, die als Besatzer kamen und mit denen die Stadt später Freundschaftsfeste feierte. Seit den achtziger Jahren ging sie mehrere Städtepartnerschaften ein. Sie öffnen den Blick auf Städte und Staaten, in denen manches anders ist und anders geregelt ist als bei uns, in denen aber Menschen leben, die ganz ähnliche Befürchtungen und Wünsche haben wie wir. Wir sehen also, wir lernen un

d wir denken nach, und die pure Freude an der Begegnung und am Fest kommt darüber nicht zu kurz.

Nicht alles, was geplant wurde, wurde auch getan und gebaut. Das „Jahrhundertprojekt“ von Bürgermeister Bauner (die Bebauung der Bruchwiese, mit der das Sportzentrum auf dem Dohlberg finanziert werden sollte), scheiterte ebenso wie das Kombibad. Seit fünfzig Jahren gefordert, diskutiert und zum Teil detailliert geplant wurden der Hochwasserschutz für die Kernstadt und die oberhalb am Seemenbach gelegenen Stadtteile und das Sportzentrum. Da gibt es Hoffnung.

Meine Damen und Herren, die Geschichte der Stadt Büdingen in diesem halben Jahrhundert ist nicht nur die Geschichte kommunalpolitischer Leistungen und Versäumnisse. Sie ist zugleich die Geschichte bürgerlicher, gesellschaftlicher Gruppierungen und ihrer Aktionen. In dieser Zeit verhalten sich die Menschen auch außerhalb der eigenen vier Wände anders als früher. Die Bereitschaft, sich in Vereinen, den traditionellen, vor allem im 19. Jahrhundert entstandenen Formen von Geselligkeit und Engagement zu organisieren und zu betätigen, mit Satzung, fester Mitgliedschaft und zumindest erwarteter regelmäßiger Präsenz, schwindet. Nicht überall und in jeder Form gleich. In unserm Raum - Sie nehmen das genauso wahr wie ich - sind es vor allem die Fußball- und Gesangvereine, denen nicht mehr genug Junge nachwachsen. Das hat natürlich, wie fast alles in der Welt, Gründe, auf die ich jetzt nicht eingehen kann. Die eine Reaktion darauf ist die Fusion zweier oder dreier Vereine, und wie die männlichen Büdinger Sänger erleben mussten, nützt auch das nicht immer. Die andere Reaktion ist die Auflösung von Vereinen, die vor wenigen Jahren noch hohe Geburtstage feierten.  

Doch es gibt auch eine andere Laufrichtung. Zunächst den Wunsch nach Partizipation, erhöhter Teilhabe an politischen Entscheidungen. Das Land hat ihm in den neunziger Jahren zugearbeitet: es führte die direkte Wahl des Bürgermeisters und des Landrats ein und ermöglichte in der Wahl der Gemeindeparlamente das Kumulieren und Panaschieren. Gerade bei uns war zu beobachten, dass den Wählern beides Spaß machte; die Kandidatenlisten der Parteien haben sie tüchtig durcheinandergewirbelt.  Es gab und gibt immer wieder Gruppen von Menschen, die sich zusammentun, um auf einen Tatbestand, ein Problem nicht nur hinzuweisen, sondern einzuwirken: Hubschrauber-landeplatz, Hallenbad, Bebauung der Bruchwiese, Schlosspark. (Ich greife zu Stichwörtern, um Ihre Durststrecke ein wenig zu verkürzen!) Die „Kinderlobby“ machte Vorschläge, Schüler demonstrierten gegen den Irakkrieg, die demokratischen Parteien, schon 1992, gegen Ausländerhass.

Die Kultur wird vor allem von Vereinen getragen: „Eine Stadt spielt Theater“, Kulturkreis, Geschichtsverein, Mittelalterverein, „Fünfziger-Jahre-Museum“, Musik- und Kunstschule. Musikalisch spielen noch immer die Gesangvereine, vor allem aber die evangelische Kirchengemeinde eine wichtige Rolle. Personen sind wichtig: Willi Luh, Walter Arbeiter, Lothar Keil.

Die Bereitschaft der Menschen, die Not anderer zu sehen und ihr nach Kräften abzuhelfen, ist nach meiner Einschätzung deutlich gewachsen. In Büdingen gibt es viel, was einen froh machen kann. Auch hier nur Stichworte: Die Ehrenamtsagentur, die sich um die Senioren dieser Stadt, in den letzten Jahren vor allem um die Flüchtlinge kümmert. Feuerwehrleute, die nach Überschwemmungen in unserer Partnerstadt Herzberg, in Sachsen und im Ahrtal spontan Hand anlegten. Die ungezählten Büdingerinnen und Büdinger, die den Opfern der Flut vom 29. Januar 2021 alle Hilfe leisteten, zu der sie imstande waren, und für sie spendeten. Sponsorenläufe. Und eine Figur wie Dieter Egner, die selbst fast eine Institution geworden ist.

Meine Damen und Herren, Wilhelm Landmann, der letzte Bürgermeister von Wolferborn, ein aufrechter, angesehener Mann, hat die Gebietsreform 1997 in einem Rückblick „unselig“ genannt. Ich stimme ihm nicht zu. Wie anderswo konnte auch auf der hessischen Landkarte nicht alles bleiben, wie es war. Die Gebietsreform war Menschenwerk, also in ihrer Entstehung wie ihrer Ausgestaltung nicht ohne Mängel und Fehler. Auch die Großgemeinde Büdingen war und ist Menschenwerk. Menschen, vor allem die Bürgerinnen und Bürger dieser Stadt, werden immer daran zu arbeiten haben, dass es hier hell und warm bleibt, heller und wärmer wird. Und sie werden das tun.

Autor: Dr. Volkmar Stein